Als kleine Kinder lieben wir Geschichten. Wir lieben Geschichten weit mehr als das augenblickliche Geschehen. Die Geschichte ist für uns während wir hören augenblickliches Geschehen. Wir differenzieren nicht in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wir tauchen ein, wir staunen und fragen voll Zuversicht nach. Keine Scheu, etwas nicht verstanden zu haben. Oder wer kennt nicht von Kindern die Bitte: „Noch einmal.“ oder „Noch eine.“. Wir wissen, ob wir Geschichten mögen oder nicht mögen. Wir suchen uns immer die für uns schönsten Geschichten aus.
Erst später entwickeln wir unser Rollenverständnis und fangen an, in Kategorien zu denken zwischen richtig und falsch, gut und schlecht, und vergessen dabei, dass wir jetzt gerade selbst Geschichte schreiben.
Vielleicht ist die Art, gute Geschichten zu hören von guten Erzählern, das, was den Unterschied in unseren Programmierungen und Konditionierungen ausmacht. Vielleicht ist es das, was uns Welt später gut oder schlecht erleben lässt.
In unserer Arbeit verwenden wir oft Geschichten, um das Groteske aufzuzeigen, bilden Metaphern, um Lösungen zu entwickeln, und machen Paradoxien durch Erzählungen bewusst. Geschichten bilden eine hervorragende Basis, unsere Verstandesprogrammierungen und -dogmen zu durchbrechen, wenn wir uns darauf einlassen können und wie Kinder zuhören. Hatten wir doch schon einmal gekonnt. Was ist geschehen, dass wir uns dies haben wegnehmen lassen? Braucht es eine Erklärung, was geschehen ist, oder reicht es einfach aus, sich neu darauf einzulassen. Beim Lesen von Geschichten kann man seinen eigenen Verstand gut beobachten. Wenn das gelingt, diesen Verstand anzufangen zu beobachten, was er einem vorgaukelt, bekommt man eine Idee davon, was wir in den nachfolgenden Blogs als Rollendilemma aufzuzeigen versuchen.
In den kommenden Blogs werden wir uns bei den Themen, die wir behandeln, immer wieder durch Geschichten, die uns seit sehr vielen Jahren begleiten und mit Sicherheit unser Leben geformt haben und uns auch Richtung aufgezeigt haben, inspirieren lassen. Wir werden über diese einen Bezug zu unseren Erfahrungen in unserer täglichen Arbeit herstellen.
In unserer Arbeit mit Führungsverantwortlichen erleben wir häufig, dass viel geleistet, viel getan wird, meist jedoch nicht am Wesentlichen. Wobei der Blick auf das Wesentliche wie in der nachfolgenden Geschichte aufgezeigt vielleicht schon viel viel früher verloren gegangen ist.
Ein Löwe geriet in Gefangenschaft und wurde in ein Lager gebracht, wo er zu seinem Erstaunen noch andere Löwen antraf, die schon jahrelang dort waren, einige sogar ihr ganzes Leben, denn sie waren dort geboren. Er lernte bald die sozialen Betätigungen der Lagerlöwen kennen. Sie schlossen sich in Gruppen zusammen. Eine Gruppe bestand aus den Gesellschaftslöwen; eine andere ging ins Showgeschäft; wieder eine andere betätigte sich kulturell, um die Bräuche, die Traditionen und die Geschichte jener Zeiten zu bewahren, als die Löwen in Freiheit lebten. Andere Gruppen waren religiös – sie kamen zusammen, um zu Herzen gehende Lieder zu singen von einem künftigen Dschungel ohne Zäune. Einige Gruppen fanden Zulauf von denen, die sich von Natur aus für Literatur und Kunst interessierten; wieder andere waren revolutionär gesonnen, sie trafen sich, um sich gegen ihre Wärter zu verschwören oder gegen andere revolutionäre Gruppen Pläne zu schmieden.
Ab und zu brach eine Revolution aus, die eine oder andere Gruppe wurde ausgelöscht, oder alle Wärter wurden umgebracht und durch andere ersetzt.
Als sich der Neuankömmling umsah, bemerkte er einen Löwen, der stets tief in Gedanken versunken schien, ein Einzelgänger, der keiner Gruppe angehörte und sich meistens von allen fern hielt. Es war etwas Seltsames um ihn, das sowohl die Bewunderung der anderen hervorrief, aber auch ihre Feindseligkeit, denn seine Gegenwart erzeugte Angst und Selbstzweifel: Er sagte zu dem Neuankömmling: “Schließ dich keiner Gruppe an. Diese armen Narren kümmern sich um alles, bloß nicht um das Wesentliche.”
“Und was ist das?”, fragte der Neuankömmling.
“Über die Art des Zaunes nachzudenken.”
Nichts, aber auch gar nichts anderes ist wichtig!
Quelle: Wo das Glück zu finden ist, Antony de Mello